„Räume für diejenigen schaffen, die sonst keinen Platz finden“
Die Bandbreite der ambulanten und stationären Angebote für Menschen mit Behinderung ist groß. Caritative Organisationen bieten eine ganze Palette begleitender Dienste und Unterstützung, angefangen von beispielsweise der Offenen Behinderten Arbeit bis hin zu stationären Angeboten für Menschen mit geistig-mehrfacher Behinderung. Kommen dazu aber noch ein ausgeprägtes psychiatrisches Krankheitsbild sowie schwere Verhaltensauffälligkeiten, so ist die Anzahl der Betreuungsplätze für diesen Personenkreis im Raum Oberbayern eher überschaubar.
In der Stiftung Attl hat man sich aber genau darauf spezialisiert. Im neu gegründeten Wohnbereich Sophie Scholl finden die Menschen einen Platz zum Leben und Wohnen, für die in vielen anderen Einrichtungen nicht gesorgt werden kann. Doch die Geschichte dieser sogenannten Intensiv-Wohngruppen geht in Attl bis in die 90er-Jahre zurück.
Petra Hageneder, Leiterin des neuen Wohnbereichs, erinnert sich an die Anfänge. Bereits vor über 25 Jahren betreute sie, damals noch als Krankenschwester im Bezirksklinikum Gabersee, Menschen mit geistiger Behinderung. Die Patienten waren dort oftmals schon seit vielen Jahren in der Psychiatrie untergebracht. Der Schwerpunkt der Behandlung lag im medizinisch-psychiatrischen Bereich, nicht in der Pädagogik. Die Stationen umfassten bis zu 34 Patienten. Im Rahmen der Enthospitalisierung folgten Verlegungen in Einrichtungen der Behindertenhilfe. 1996 eröffnete die Samuelgruppe in der Stiftung Attl. Vier Langzeitpatientinnen und drei Patienten aus den umliegenden Bezirkskliniken fanden hier einen Wohnplatz in einer kleinen Wohngruppe für acht Bewohner.
„Die Anfangszeit war sehr chaotisch“, erinnert sich Petra Hageneder. „Die Bewohner waren hocherregt und äußerst schwierig zu betreuen. In der Stiftung Attl hatte man mit diesem Personenkreis damals noch keine Erfahrung.“ Die Grenzen waren für die betreuenden pädagogischen Fachkräfte schnell erreicht und die Personalfluktuation entsprechend hoch. Erst später festigten sich die Strukturen für die Betreuten und Betreuer. Der Schwerpunkt verlagerte sich vom Psychiatrischen ins Pädagogische. Neue Ansätze in der Kommunikation sowie ein Vermitteln von Sicherheit mittels klarer Strukturen reduzierten die Verhaltensauffälligkeiten der Menschen dort.
„Es ist wichtig, dass auf solchen Wohngruppen Menschen arbeiten, die Lust auf diese Klientel haben. Hier ist die ganzheitliche Sichtweise wichtig“, stellt sie fest. „Spontan möchte man die oftmals schweren Verhaltensauffälligkeiten eher verhindern oder stoppen, anstatt nach der Ursache zu fragen.“ Dabei sei jeweils die Vorgeschichte des Einzelnen wichtig, um neue Wege und Ansätze in der Betreuung zu finden.
Der Samuelgruppe als erste Intensiv-Wohngruppe folgte im Jahre 2002 eine weitere: die Paul-Miki-Gruppe. Diesmal handelte es sich beim Personenkreis um Menschen, die bereits im Jugendalter in der Stiftung Attl betreut wurden. Da es aufgrund ihres herausfordernden Verhaltens in der Einrichtung keine geeignete Wohnform gab, entstand diese Gruppe mit acht Wohnplätzen als Nachfolgekonzept.
Mittlerweile besteht der Wohnbereich Sophie Scholl aus neun Wohngruppen mit unterschiedlichen Ausrichtungen. Mit den beiden neuen, im Februar und August 2018 eröffneten Gruppen, bietet der Bereich aktuell 72 Plätze an.
„Wir haben in der Stiftung Attl mit diesen Wohngruppen ein heilpädagogisches Umfeld geschaffen, das sich auf dieses Spektrum spezialisiert hat“, meint Herbert Prantl-Küssel, Leiter des Unternehmensbereichs Wohnen. Um diese spezielle Betreuungsform überhaupt erst bieten zu können, wurden viel Zeit und Geld, vor allem in die fachliche Qualifikation des Personals, investiert. Aufgrund der hohen Fachkompetenz gibt es immer wieder viel Aufnahmeanfragen. „Gerade im intensiven Betreuungssegment ist der Bedarf in den vergangenen Jahren gestiegen“, meint er. Diese Entwicklung zeichne sich gerade auch im Kinder- und Jugendbereich ab. Der Personenkreis wird immer schwieriger und von den Anfragen her immer individueller. In der Stiftung Attl möchte man für diesen Bedarf eine Antwort geben. Durch die immer bessere Versorgung an ambulanten Hilfen und Unterstützungsmaßnahmen gerade für Kinder und Jugendliche kommen oftmals nur noch diejenigen in eine stationäre Einrichtung, für die keine anderen adäquaten Konzepte mehr greifen.
In erster Linie geht es aber nicht nur darum, den Betreuten einen Platz zum Leben und Wohnen zu bieten. Im Vordergrund der Betreuung stehen vor allem Stabilisierung, eine damit verbundene Reduzierung der herausfordernden Verhaltensweisen und Persönlichkeitsentwicklung. Danach folgen Arbeits- und Beschäftigungskonzepte im Sinne eines zweiten Lebensbereichs. Das Schaffen einer Tagesstruktur, Abwechslung im Alltag und das Anbahnen von Kontaktmöglichkeiten verfolgen das Langzeitziel der Inklusion.
Eine persönliche Entwicklung ist für viele dieser Menschen möglich. Das zeigen die Erfahrungen der letzten zwei Jahrzehnte. Einige der Psychiatriepatienten von damals leben heute in offeneren Wohnformen und besuchen tagsüber die Förderstätte oder gehen sogar einem Arbeitsplatz in den Inntal-Werkstätten nach.
„Bei anderen geht es aber in erster Linie darum, eine erreichte Stabilität zu halten“, weiß Petra Hageneder. Auch diese Personen haben ein Entwicklungspotenzial. Mehr Selbstständigkeit führt zu mehr Selbstbestimmung. Stabilisierungsgruppen mit einem besonderen Setting sollen künftig dazu beitragen und gleichzeitig wiederum Kapazitäten auf den Intensiv-Wohngruppen schaffen.
Für Herbert Prantl-Küssel liegt ein Schlüssel zum Erfolg in einer fundierten Mitarbeiter-Qualifizierung. „Wir bieten den Mitarbeitern spezielle Fortbildungen, Sicherheitskurse und eine enge Begleitung durch unseren pädagogischen und psychologischen Fachdienst. Auch kooperieren wir eng mit psychiatrischen Einrichtungen und bieten eine große Methodenvielfalt. Nur so können wir Räume für diejenigen schaffen, die sonst keinen Platz finden.“
Leonie- und Fabiangruppe heißen die jüngst eröffneten Wohngruppen, die aus der Not geboren wurden. Durch die Schließung eines Heims in Oberbayern musste in kurzer Zeit ein Platz für 16 Betreute gefunden werden. Die Stiftung Attl hat sich mittlerweile in Fachkreisen den Ruf erarbeitet, mit hoher Kompetenz diesen Personenkreis zu betreuen. „Trotzdem darf das Betreuungsangebot nicht ausschließlich auf ein Segment fokussiert sein“, beschreibt Prantl-Küssel die Situation der Einrichtung. „Der Lebensraum im Ortsteil Attel muss für alle Menschen attraktiv und interessant bleiben, egal ob mit oder ohne Behinderung. – mjv