Am 1. April 1996 startete in der Stiftung Attl die Samuelgruppe als erste Intensivgruppe der Einrichtung. Sie ermöglichte es Menschen mit Assistenzbedarf, die dauerhaft in einer psychiatrischen Klinik untergebracht waren, den Weg zurück in ein Leben mit häuslichen Strukturen. Mittlerweil ist der Intensivbereich auf fast 80 Platze gewachsen – und der Bedarf nach solchen Angeboten bleibt ungebrochen hoch.
Noch bis Mitte der 1990er-Jahre waren Menschen mit einer geistigen Behinderung und einer psychischen Auffälligkeit dauerhaft in der Psychiatrie untergebracht. Während andere Patienten nach ihrer Akuttherapie wieder nach Hause entlassen werden konnten, fand sich für diese Menschen kein Platz. Zu fordernd war ihr Verhalten.
Erst 1995 beschloss der Verband der Bayerischen Bezirke einen Rahmenvertrag zur Enthospitalisierung von Menschen mit geistiger Behinderung aus den Bezirkskrankenhäusern. Die Hälfte der damals etwa 700 dort lebenden Menschen sollte bis Ende 1998 in angemessene Wohnformen ausgegliedert werden. Nur die gab es noch überhaupt nicht.
Die Patienten in den klinischen Strukturen belassen, kam für den damaligen geschäftsführenden Vorstand der Stiftung Attl, Alfred Eiblmaier, nicht in Frage. Seine Devise lautete: In einer Klinik wohnt man nicht. In Attl entstand mit Patienten aus Gabersee und dem Bezirksklinikum Taufkirchen am 1. April 1996 mit der Samuelgruppe die erste Intensivgruppe. Alfred Eiblmaier setzte eine Doppelbesetzung plus Nachtwache als Mindeststandard in der Betreuung durch, der noch heute gilt. Die Gruppe sollte nicht mehr als acht Personen umfassen.
Wohnform statt Verwahreinheit
Es gab weder Konzepte im Umgang mit diesem Klientel, noch eine Tagesstruktur oder Deeskalationstraining für die Mitarbeitenden. Die Bewohner*innen waren geistig behindert, psychisch auffällig und hospitalisiert durch teilweise jahrelange Psychiatrieaufenthalte. Aus der Samuelgruppe wurde nicht nur eine Verwahreinheit, sondern eine Wohnform, die Perspektiven bietet. Nach etwa drei Jahren hatte sich ein stabiles Mitarbeiterteam gefunden, das flexibel auf die Bedürfnisse der Bewohner*innen reagiert. Ein Lernprozess auch für das betreuende Personal. „Die ersten Jahre mussten wir viele Krisen meistern“, blickt Josef Spielvogel zurück, der kurz nach dem Start der Gruppe als Heilerziehungspfleger dorthin wechselte und heute die Samuelgruppe leitet.
Über die Jahre entwickelte das Fachpersonal aus Psychiatrie und Heilpädagogik nach und nach ein funktionierendes Konzept für den Intensivbereich – einschließlich Inklusion innerhalb der Einrichtung. Denn auch intern wurde die neue Gruppe zunächst argwöhnisch beäugt. „Wir waren eine wilde Truppe und manche hatten einfach Angst – das galt für Bewohner*innen wie auch für Betreuer*innen“, erinnert sich Petra Hageneder, Leiterin des Intensivbereichs. Sie begleitete als Fachschwester Psychiatrie den Start des Intensivwohnens und leitete 22 Jahre lang die Samuelgruppe. Bis heute prägt sie die Arbeit der Stiftung Attl im Intensivwohnen. Besonders wichtig ist für sie der Rückhalt durch den Vorstand und den Wohnbereichsleiter Herbert Prantl-Küssel.
Nicht zuletzt durch die Teilnahme an internen Veranstaltungen wie dem Wohnstättenfasching oder Besuche im stiftungseigenen RockInn Pub, durch gemeinsame Urlaube und Events wie dem Besuch des Attler Herbstfests konnte sich die Gruppe festigen – auch innerhalb der Einrichtung. Über die Jahre baute sie nach und nach Barrieren ab. „Den Menschen so akzeptieren, wie er ist“ – das ist eine Prämisse, die auf einer Intensivwohngruppe eine neue Bedeutung erhält. Die Herausforderung für die Mitarbeitenden lautet dabei: sich täglich neu überdenken.
Nach wie vor lange Wartelisten
Doch das Konzept gibt den Attlern recht: Einige Mitarbeitende arbeiten seit 25 Jahren auf einer Intensivwohngruppe. Kein Aprilscherz: Am 1. April 2021 feierte Johannes Renauer sein 25-jähriges Jubiläum auf der Samuelgruppe. Er ist als einziger der damaligen Startmannschaft noch dort im Einsatz. Der Heilerziehungspfleger erlebte alle Veränderungen, die im Intensivbereich vonstattengingen. „Wir sind damals ins kalte Wasser gesprungen und mussten uns freischwimmen“, erinnert sich Renauer. Aber die Betreuten und das Team seien Grund genug gewesen, zu bleiben. Denn das Arbeiten auf einer Intensivwohngruppe sei vor allem Einstellungssache und geprägt vom Respekt im Umgang miteinander.
Leider mussten Feierlichkeiten zum Jubiläum Corona-bedingt ausfallen. Gruppenleiter Josef Spielvogel überreichte ihm aber ein kleines Präsent seiner Kollegen und würdigte ihn für sein Engagement.
Mittlerweile bietet die Stiftung Attl zehn Intensivwohngruppen an und ist damit der größte Anbieter für Intensivplätze in Oberbayern. Etwa 150 Mitarbeitende leisten die wichtige Betreuungsarbeit in diesem Bereich. Auch bei betroffenen Angehörigen von Menschen mit einer geistigen Behinderung und herausforderndem Verhalten hat sich Arbeit der Einrichtung im Intensivbereich herumgesprochen: Die Warteliste für einen Platz im Attler Intensivwohnen ist nach wie vor sehr lang.
Die Broschüre zu „25 Jahre Intensivwohnen in der Stiftung Attl“ können Sie hier bestellen oder in der Webfassung lesen. Klicken Sie dazu bitte auf das Cover.