„Wir mussten alle in den Bunker“

Stiftung Attl holt Geflüchtete mit Behinderung aus Polen

Kiew/Neisse/Wasserburg – Rund zehn Millionen Menschen sind seit der russischen Invasion in der Ukraine aus ihrer Heimat vertrieben worden. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks UNHCR haben bereits 3,6 Millionen ihr Heimatland verlassen. In Kiew musste ein Heim, in dem 239 Menschen mit Behinderung lebten, vor dem Beschuss der russischen Soldaten ins Nachbarland Polen fliehen. Zwei Gruppen mit insgesamt 20 Betreuten konnten Mitarbeiter der Stiftung Attl am vergangenen Wochenende nach Deutschland bringen, wo sie bleiben können und bis auf weiteres ein sicheres Zuhause gefunden haben.

„Die Stiftung Attl ist Mitglied im CBP, dem Fachverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e. V.“, erklärt der Vorstand der Stiftung Attl Franz Hartl den Ursprung der Aktion. „Als Fachverband aber auch als Institution in der Behindertenhilfe mussten wir diesen Menschen unbedingt helfen.“

Als die Welle der Geflüchteten losging, wandte sich die Einrichtung bei Wasserburg deshalb unmittelbar an Janina Bessenich in Berlin. Die Geschäftsführerin des Fachverbands CBP hatte ein Hilferuf der Caritas Opole (Oppeln) erreicht. Diese kümmert sich bereits seit Wochen um geflüchtete Menschen aus einer Kiewer Einrichtung. In einem zur Caritas gehörenden Erholungsheim sowie im Diözesan-Haus in Nysa (Neisse) waren zu dem Zeitpunkt zwei Gruppen mit drei Betreuern untergekommen. Leider war dies für die geflüchteten Menschen nur eine Lösung auf Zeit. Janina Bessenich vom CBP vermutet, dass sich derzeit allein in Lwiw (Lemberg), das für viele Flüchtende eine erste Anlaufstelle ist, 6000 Menschen mit Behinderung befinden, die auf ihre Weiterreise hoffen. „Wir können diese Menschen nicht verstreut in Auffanglagern ihrem Schicksal überlassen“, erklärt sie. „Sie sind traumatisiert und haben nur in ihrem Gruppenverbund mit ihren vertrauten Betreuern überhaupt eine Chance.“ Doch das mache es schwer, diese Geflüchteten weiter zu vermitteln.

Die Stiftung Attl organisierte in der vergangenen Woche im eigenen Haus zuerst eine Spendenaktion für Hilfsgüter mit Pflegeartikeln, medizinischen Produkten und Bettwäsche sowie anschließend einen Reisebus. Mit dem machte sich Stiftungsvorstand Franz Hartl und drei weitere Mitarbeiter der Einrichtung am vergangenen Freitag auf den Weg ins 700 Kilometer entfernte Neisse in Polen. Samstagmorgen konnten sie dann zwei Gruppen mit insgesamt 20 jungen Männern im Alter zwischen 16 und 35 Jahren mit Assistenzbedarf in Empfang nehmen. Elf von ihnen werden zusammen mit ihrem Betreuer Wiaczeslaw mit nach Attel fahren. Für die weiteren neun, deren Begleiterinnen die Schwestern Maria und Larissa sind, hat Franz Hartl die Weiterfahrt von der Stiftung Attl zu einer Einrichtung nach Ravensburg organisiert.

Alleine mit elf Betreuten auf der Flucht

Wiaczeslaw ist 61 Jahre alt und seit über zwei Wochen allein mit elf jungen Männern mit Behinderung unterwegs. Er regelt alles für seine Betreuten, von den nötigen Papieren bis hin zu den Medikamenten, die sie brauchen. Er unterstützt sie rund um die Uhr in allen lebenspraktischen Anforderungen und hält die Gruppe zusammen. Für sie ist er im Augenblick die einzige Bezugsperson – so etwas wie die Vaterfigur. Eigentlich ist er Sportlehrer, wie er später berichtet. Seine eigene Familie ist immer noch in Kiew.
„Als die Bomben fielen, mussten wir alle in den Bunker“, berichtet er von ihrer Flucht. „Um drei Uhr nachts sind wir dann geflohen.“ Die Flucht führte sie zunächst ins Nachbarland Slowakei und anschließend weiter nach Polen. Über die Hilfe, die ihm und seiner Gruppe seit der Flucht zuteilgeworden ist, ist er überaus dankbar. Wo es jetzt genau hingeht oder was die Stiftung Attl überhaupt ist – davon kann er sich keine Vorstellung machen. Von ihren Mitarbeitern angesprochen, was er denn am dringendsten für seine Betreuten benötige, wünscht er sich für jeden ein Paar Turnschuhe und vielleicht einen Jogginganzug, um mit ihnen draußen etwas unternehmen zu können. Andrzej Nowakowski, ein Mitarbeiter der Stiftung Attl, der als gebürtiger Pole ukrainisch versteht und so als Übersetzer agiert, notiert die Schuh- und Kleidergrößen, die Franz Hartl sogleich nach Attel übermittelt.
Wiaczeslaw fehlen im Mund die oberen Schneidezähne, was ihn sehr belastet. „Eigentlich wäre daheim alles schon bereit gewesen“, erzählt er den Attler Mitarbeitern. Die Termine für die Zahnbehandlung wären auch schon vereinbart gewesen. Dann sei der Krieg ausgebrochen.

Ankunft in Attel

Nach einer zehnstündigen Busfahrt kommen die Gruppen am Samstag gegen siebzehn Uhr in der Stiftung Attl an. In der Woche zuvor haben Mitarbeitende der Stiftung Attl im Hauruck-Verfahren ein leerstehendes Gebäude soweit saniert, dass es für die nächsten Monate als Quartier für Wiaczeslaw und seine Gruppe, die mit einem gemeinsamen Abendessen in der Einrichtung begrüßt wird, dienen kann. Sogar eine Feuertreppe wurde aus Brandschutzgründen in Gerüstbauweise noch an der Rückseite des Gebäudes angebracht.

„Ich bin froh, dass alles so reibungslos geklappt hat.“ Stiftungsvorstand Hartl ist erleichtert. „Leider können wir im Moment nur dieser einen Gruppe helfen. Aber ich hoffe, dass noch weitere Institutionen Möglichkeiten für eine schnelle und unbürokratische Unterstützung schaffen können.“

Jetzt brauchen die Geflüchteten erst einmal Zeit für sich – Zeit um anzukommen und um überhaupt eine Möglichkeit zu haben, die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Die Turnschuhe und die Trainingsanzüge, die sich Wiaczeslaw für seine Männer gewünscht hat, hat eine Mitarbeiterin noch während der Fahrt zur Einrichtung besorgt. Und auch für seine weitere Zahnbehandlung möchte ihn die Stiftung Attl auf alle Fälle unterstützen. Doch davon weiß er noch nichts. – Michael J. Wagner