Arbeiten in der Attler Gärtnerei oder der Landwirtschaft gehörte in der Stiftung Attl schon immer zum Leben dazu. Doch die große Mehrheit der Menschen mit einer geistigen Behinderung verbrachte ihre Tage ohne Aufgabe und Förderung. Dies änderte sich erst Anfang Okotber 1972, als Helmut Allgeier von der Stiftung den Auftrag erhielt, eine „Beschützende Werkstatt für Behinderte“ aufzubauen. Damit legte er den Grundstein für die Inntal-Werkstätten.
Zur Verfügung stand ihm ein Raum mit 50 Quadratmetern ohne Wasseranschluss, Toilette oder Telefon. Trotzdem startete er die Arbeitsgruppe mit vier Bewohnern und entwickelte für diese zusammen mit zwei Mitarbeitenden eine Tagesstruktur. „Die Kunst war es schon damals, Arbeiten so aufzuteilen, dass die Betreuten die einzelnen Schritte möglichst selbstständig bewältigen konnten“, erinnert sich Allgeier. Wichtig sei die Begleitung der Bewohner und deren Eingewöhnung in die Werkstattregeln gewesen. Nach einem Monat besuchten schon 15 Bewohner tagsüber die Montage, nach einem Jahr waren es bereits 40 Personen. „Die Bewohner kamen gern zu uns. Sie fragten am Abend, ob sie morgen wiederkommen dürfen.“
Anerkennung schafft Grundlage für weiteren Ausbau
Außerdem leistete Allgeier große Überzeugungsarbeit bei Firmen in der Region, um an Aufträge zu gelangen. Als ersten Partner gewann er das Hohenlindener Unternehmen Dürrmann, das Kunststoffverpackungen fertigt. Noch heute montiert und verpackt die Montageabteilung Teile für die Firma. „Dafür kann ich Dürrmann gar nicht genug danken“, so Allgeier.
Ab 1974 wurde es mit der Einführung der Schwerbehindertenabgabe auch für Firmen interessant, Aufträge an eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfbM) auszulagern. Die Stiftung investierte in die Modernisierung der Räume sowie in Maschinen für Metallverarbeitung und Schreinerei. Diese Erweiterung des Angebots war eine wichtige Voraussetzung für die rechtliche Anerkennung als WfbM, welche die Inntal-Werkstätten 1979 schließlich erhielt. Voraussetzung waren damals 120 Beschäftigte, was Allgeier durch die Einbindung von Gärtnerei und Landwirtschaft erreichte.
Eigentlich gab es immer eine Baustelle in Attl, meint Bernhard Gutschmidt, der die Inntal-Werkstätten seit 2016 leitet. Im Jahr 1985 zog die Werkstatt in einen Neubau um, der 80 Arbeitsplätze ermöglichte. Weitere wichtige Entwicklungsschritte waren der Außenstandort im Rotter Ortsteil Meiling 1990, der Neubau der Gärtnerei am Ortseingang 1998 und der Kantine 1999 sowie der Werkstatt II mit einer Förderstätte im Jahr 2000.
Vielfalt mit unterschiedlichen Standbeinen
Wichtig sei es immer gewesen, die Werkstatt auf möglichst viele Standbeine zu stellen. Daher stand die Leitung auch zur Weberei, die 1990 mit nach Rott umzog, und entwickelte 1996 die Marke FAIRWERK.
Als besondere Herausforderung sehen die ehemaligen Werkstattleiter noch die Zeit, als sich die Werkstätte für Frauen öffnete. „Vor allem die Außenstelle Meiling half aber dabei, Vorurteile abzubauen“, weiß Helmut Allgeier. Weitere strategisch wichtige Entscheidungen waren die Ausrichtung der Landwirtschaft auf einen Naturlandbetrieb sowie die Erweiterung der Förderstätte nach Wasserburg und Rechtmehring. Beides förderte die Öffnung der Stiftung Attl nach außen.
Mit viel Engagement entstand als Pilotprojekt 2005 die Werkstatt für Menschen mit Autismus. Seit 2021 gibt es das Angebot einer Förderwerkstätte als Bindeglied zwischen Förderstätte und Werkstätte.
„Wir sind mit allem, was wir taten, ins kalte Wasser gesprungen“, sagt Helmut Allgeier. Dabei haben er und seine Nachfolger Alfred Heitauer und Martin Posch den Grundstein gelegt für die Vielfalt der Inntal-Werkstätten in ihrer heutigen Größe.
Als Bernhard Gutschmidt 2016 die Leitung der Inntal-Werkstätten übernahm, war sein Start in der Stiftung Attl geprägt vom Brand auf dem Attler Hof im Oktober 2015. „Tief beeindruckt hat mich, wie fürsorglich die Stiftung mit den Betreuten nach dem Stallbrand umgegangen ist. Es verdeutlichte mir, welche große Bedeutung der Hof, seine Tiere und die Arbeitsplätze in der Natur für die Attler haben und wie wichtig der Wiederaufbau des Stalls 2016 war.“
Kein Mitleidsbonus für Werkstätten
Seitdem musste er große Veränderungen bewältigen. Nicht zuletzt die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes und die Nachwirkungen der Corona-Pandemie änderten die Schwerpunkte des Betriebs. Auch Corona stellte die Inntal-Werkstätten vor eine große Belastungsprobe. Die vorübergehende Schließung beschleunigte nur, was sie in naher Zukunft höchstwahrscheinlich sowieso eingeholt hätte. „Manche Partnerfirmen investierten in die weitere Automatisierung ihres Betriebs, weswegen wir Aufträge verloren. Dafür haben wir andere hinzugewinnen können“, so Gutschmidt. Für Werkstätten gebe es keinen Mitleidsbonus. „Auch deswegen war es für uns schon immer wichtig, professionell und schnell auf Anfragen zu reagieren.“
Während es bei der Gründung 1972 noch um ein beschützendes Umfeld ging, versteht sich die WfbM heute als Dienstleistungsbereich, der die Beschäftigten individuell fördert und ihnen den Einstieg in den Ersten Arbeitsmarkt erleichtern – inklusive einer betriebsintegrierten Beschäftigung bei Partnerfirmen. Entsprechend ist das Anspruchsdenken an den pädagogischen Auftrag heute viel höher als früher. Werkstatträte und die Frauenbeauftragte fördern die Mitbestimmung. Außerdem sind Ausbildung, Weiterbildung und lebenslanges Lernen mittlerweile auch für Menschen mit Assistenzbedarf selbstverständlich. „In Zukunft werden wir uns beim Thema berufliche Bildung noch besser aufstellen müssen.“ Obwohl ein Abschluss in Deutschland immer noch die Grundlage für den Ersten Arbeitsmarkt sei, gebe es für den Berufsbildungsbereich keinen anerkannten Qualifizierungsnachweis.
Pädagogische Arbeit im Fokus
Den Beschäftigten der Inntal-Werkstätten hilft ein durchlässiges System, das von der Förderstätte bis hin zum Ersten Arbeitsmarkt reicht. Im Zentrum steht dabei kein allgemeiner Leistungsgedanke, sondern die individuelle Förderung, die immer hinterfragt, was das Beste für jeden Einzelnen ist. Entsprechend steht auch nicht der wirtschaftliche Erfolg der Werkstatt, sondern die pädagogische Arbeit im Fokus. Auch wenn eine WfbM deswegen für ihre Beschäftigten keine Löhne wie auf dem Ersten Arbeitsmarkt erwirtschaften könne, wünscht sich Bernhard Gutschmidt ein transparentes und nachhaltiges Entgeltsystem, das zumindest in Bayern für alle Werkstätten gültig ist.
Um die Zukunft macht sich der Werkstattleiter indes keine Sorgen. Die Inntal-Werkstätten profitierten von ihrer langjährigen pädagogischen Erfahrung und den vielen Standbeinen, die sie in 50 Jahren aufgebaut hat. Diese reichen von der Aufteilung in die Auftragsbearbeitung für Industrie und Mittelstand, bis hin zur Vermarktung von Eigenprodukten und dem Verkauf von Produkten aus Hof und Gärtnerei im Attler Markt. Derzeit bietet der Unternehmensbereich Arbeiten in den Attler Inntal-Werkstätten 330 Plätze in zehn verschiedenen Berufsfeldern an. In der Förderstätte stehen weitere 110 Betreuungsplätze bereit.
Sonderheft „50 Jahre Inntal-Werkstätten“