Vor ziemlich genau zwei Jahren, am 26. März 2022, folgte die Stiftung Attl dem Aufruf des Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP). Insgesamt elf Jugendliche und junge ukrainische Männer mit Beeinträchtigung fanden zusammen mit einer ukrainischen Betreuungskraft eine Unterkunft in der Stiftung Attl. In der Einrichtung in Kyjiv, dem Waisenhaus Sviatoshyno, konnten sie auf Grund der Bombardierungen nicht mehr bleiben. Sie mussten über Nacht mit dem Nötigsten fliehen.
Nun machte sich Dr. Rolf Schmachtenberg, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, ein Bild von der Situation in der Stiftung Attl. Er wurde begleitet von Ute Dohmann-Bannenberg, Referentin beim Bundesverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) und Johannes Magin, verantwortlich für die Teilhabeleistungen von Jugendlichen und Erwachsenen bei der Katholischen Jugendfürsorge der Diözese Regensburg. Aus dem Bezirk Oberbayern war Bezirksrat Matthias Eggerl anwesend.
Die Vorstände Manuela Keml und Jonas Glonnegger begrüßten die Besucher mit einer kurzen Vorstellung der Wohngruppe Palianytsia. Der Name bedeutet „Brot“, ein Grundnahrungsmittel in der Ukraine wie auch in Deutschland. Die elf jungen Männer zwischen damals 16 und 35 Jahren haben ihn sich selbst ausgewählt. „Wir sind von Anfang an gut von den Behörden unterstützt worden“, betonte Vorstand Jonas Glonnegger. Es stand für die Stiftung Attl fest, dass man die jungen Leute aus der Ukraine mit ihrer Aufnahme in der Einrichtung bei Wasserburg am Inn behutsam in die örtlichen Strukturen einbinden und ihnen eine möglichst gute Teilhabe ermöglichen werde.
„Die ukrainischen Betreuerinnen und Betreuer kamen mit dem Auftrag nach Deutschland, ihre Gruppen mit möglichst wenig Einfluss von außen zusammenzuhalten“, erklärte Ute Dohmann-Bannenberg, die alle Mitgliedseinrichtungen im CBP, welche geflüchtete Menschen mit Beeinträchtigung aus der Ukraine aufgenommen haben, begleitet. In gemeinsamen Videokonferenzen von deutschen und ukrainischen Leitungskräften galt es zunächst, den Geflüchteten das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln und Vertrauen aufzubauen. Ukrainische Betreuungskräfte und die Einrichtungsleitungen in Kyjiv wurden in den anfänglich wöchentlichen Besprechungen schrittweise an die nationalen Standards in Deutschland, zum Beispiel hinsichtlich der Pflege und Medikation, aber vielmehr auch vor dem Hintergrund der Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung, herangeführt.
Vertrauen in die Betreuung in Deutschland aufbauen
Als klar wurde, dass der Krieg und damit der Aufenthalt in Deutschland länger dauern würde, öffnete sich die Gruppe langsam. „Mit einer Aufnahme sehen wir uns für die Menschen in der Verantwortung“, betonte nach Vorstand Glonnegger auch Johannes Magin in seiner Präsentation. Seine Einrichtung bei Regensburg hatte 25 ukrainische Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aufgenommen. „Es bedurfte viel Austausch, um Vertrauen aufzubauen und zum Beispiel auch andere Betreuungskräfte in der Gruppe zu integrieren. Die Angehörigen hatten Angst, dass sie ihre Kinder verlieren.“ Auch sei es zudem vorgekommen, dass während einer Videokonferenz die Eltern oder die Einrichtungsleitung in Kyjiv plötzlich wegen eines Fliegeralarms in den Luftschutzbunker wechseln mussten. Dabei sehe Johannes Magin die Aufnahme der ukrainischen Wohngruppen auch als Chance. „Wir konnten nicht nur mit der Gruppe auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Ukraine einstellen oder geflüchteten Menschen eine Arbeit geben, die jetzt auch eine Ausbildung in Deutschland beginnen“, so Magin. Durch die Einbindung des ukrainischen Personals könne auch ein Austausch mit den Einrichtungen dort in Gang kommen.
Dies bestätigte auch Yuliia Karpiuk, die derzeit im Auftrag der Kyjiwer Einrichtung in der Stiftung Attl die ukrainische Gruppe betreut. Dem Staatssekretär berichtete sie: „Der Unterschied ist wie Tag und Nacht. Einfache Tätigkeiten wie gemeinsam das Essen zu kochen oder einkaufen zu gehen, gab es dort nicht.“ Konzeptionell ist die Unterstützung von Menschen mit Beeinträchtigung in Deutschland und der Ukraine unterschiedlich ausgerichtet.
Leben auch außerhalb der Wohngruppe
Bei einer gemeinsamen Führung durch die Lebensbereiche der ukrainischen Wohngemeinschaft konnte sich Dr. Rolf Schmachtenberg dann selbst ein Bild von der Situation vor Ort machen. Siegfried Kriegel, der die Wohngemeinschaft Palianytsia leitet, begrüßte ihn zunächst in der Förderstätte. Dieser sogenannte zweite Lebensbereich war für die Bewohner aus der Ukraine neu. Kriegel erklärte die behutsame Eingliederung der Betreuten in eine Tagesstruktur außerhalb der Wohngruppe zur Förderung und zur Vorbereitung auf eine Tätigkeit in der Werkstatt. Sprachliche Barrieren zu den deutschen Förderstättengängern seien dabei kein Problem. Man lerne sich mit der Zeit kennen und verstehen. Anschließend ging es zusammen ins Wohnhaus. Vor allem puzzeln und malen stehen bei den ukrainischen Betreuten hoch im Kurs. Zwei von ihnen gehen noch zur Schule, zwei weitere arbeiten in der Schreinerei in Rott, einem Außenstandort der Attler Inntal-Werkstätten. Weil ein Besuch den zeitlichen Rahmen gesprengt hätte, kamen Anton Wzycinski und Dimitri Borszczew mit dem Rotter Gruppenleiter Jakob Schederecker einfach in die Montageabteilung nach Attel und zeigten dort Werkstücke, die sie gemeinsam fertigen.
Während es im gesamten Bundesgebiet gelungen ist, Menschen mit Beeinträchtigung aus der Ukraine Teilhabe am Arbeitsleben in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfbM) zu ermöglichen, wurde dies im Bezirk Oberbayern noch nicht umgesetzt, erzählte Jonas Glonnegger. Bezirksrat Matthias Eggerl nahm dieses Thema gern mit und sagte: „Ich bin zwar regelmäßig in Attel, aber ich lerne immer wieder Neues dazu.“
Neues Konzept Förderwerkstätte
Mit großem Interesse tauschte sich Dr. Rolf Schmachtenberg mit den Beschäftigten in der Montageabteilung aus und ließ sich außerdem noch über die Werkstatt für Menschen mit Autismus und die Förderwerkstätte informieren. Die Stiftung Attl beschritt vor drei Jahren einen unkonventionellen Weg, indem sie die Grenzen zwischen Förderstätte und Werkstatt durchlässiger machte. Zum einen diene die Förderwerkstätte zur Vorbereitung auf die Tätigkeit in einer Werkstattgruppe, zum anderen fange sie aber auch diejenigen Werkstattgänger auf, die den Anforderungen in ihrer Arbeitsgruppe nicht mehr gerecht werden können. Als sehr „lebensnah“ bezeichnete Dr. Rolf Schmachtenberg das Konzept, das aber leider nicht in die derzeit gültigen Kategorien passe. „Wir wollen die Förderwerkstätten mehr ins Licht holen“, versprach er. Dies sei Teil des Aktionsplans zur Weiterentwicklung der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen
An die Zukunft der Geflüchteten Menschen denken
In einem abschließenden Rückblick bestätigte der Staatssekretär: „Ich sehe, dass sich die jungen Menschen aus der Ukraine in der Stiftung Attl wohlfühlen.“ Schmachtenberg bezeichnete es als zielführend, Kontakte in die Ukraine zu pflegen. Erste Schritte in diese Richtung hat Johannes Magin schon unbürokratisch eingeleitet. Ukrainische Mitarbeiterinnen der Caritas Ukraine werden in Regensburg mit dem Ziel hospitieren, dass diese ihre Eindrücke mit nach Hause nehmen und dort Impulse geben können.
Sehr zugewandt habe er den Staatssekretär erlebt, gerade im Kontakt mit den Menschen in den Inntal-Werkstätten, so Jonas Glonnegger. „Es tut gut zu wissen, dass Sie diese Eindrücke mit nach Berlin nehmen. Es war nicht nur ein politischer Besuch, sondern ein fachlicher Austausch.“ – Von Birgit Schlinger